Und dann weißt du, dass sich das Leben gelohnt hat

Nico_Mika_Kuscheln_BettAm 3. September 2013, einige Wochen vor Mikas erstem Geburtstag, flog ich in die USA, um ein nebenberufliches Studium an der University of Pennsylvania aufzunehmen, ein Vorgang, der sich ein Jahr lang wiederholen sollte. Ich musste jeweils drei Tage pro Monat auf dem Campus in Philadelphia verbringen und sammelte fleißig Bonusmeilen. Für den Auftakt hatten wir allerdings eine volle Arbeitswoche vor Ort zu sein, so dass ich mit Hin- und Rückflug eine ganze Woche unterwegs war. Durch meine Arbeit reise ich sowieso unentwegt, aber bis zu diesem Zeitpunkt war ich nie länger als zwei Abende am Stück nicht zuhause gewesen, seit ich Vater geworden war. Doch selbst diese kurzen Abwesenheiten konnten die Hölle sein.

Mika und ich hatten damals ein kleines Ritual:

Wenn ich abends von der Arbeit komme, wartet meine Frau mit Sohnemann im Arm an der Tür. Er sieht mich und seine Augen lassen erahnen, dass es einen Moment dauert, bis er mich erkennt. Ich zähle dann innerlich die Sekunden: Einundzwanzig…zweiundzwanzig…und dann beginnt sein Gesicht zu strahlen. Er quietscht vor Freude und reißt seine Arme hoch, um zu sagen: „Papa, nimm mich und umarme mich!“ Wild ist er in solchen Momenten. Er klatscht mit seinen Händen auf meine Wangen, tritt mir in seiner Aufregung in den Bauch, und beißt mir sanft in die Nase. Nach etwas sieben Sekunden bedeutet er mir, ihn abzusetzen. Dann wendet er seine Aufmerksamkeit dem nächsten Spielzeug in Reichweite zu.

Aus irgendeinem Grund hatte ich bei meiner Abreise in die USA große Angst, dass Sohnemann mich nach einer Woche Abwesenheit nicht mehr erkennen oder nicht mehr lieb haben würde. Gottseidank weiß ich heute, dass dieser Gedanke grober Unfug war. Dies ist tatsächlich geschehen:

Am 9. September 2013 komme ich wieder nachhause. Sohnemann ist noch im Bett nach dem Mittagsschlaf. Er hat sich an den Gittern seines Bettchens hochgezogen und steht im Halbdunkel. Ich schleiche langsam in den Raum und öffne die Jalousien ein kleines Stück, so dass sich ein wenig Sonne in den Raum schleichen kann. Dann gehe ich zu seinem Bett und schaue ihn an. Und er schaut mich an, mit diesem fragenden Blick. In meinem Kopf zähle ich wie eh und je die Sekunden. Einundzwanzig…zweiundzwanzig…dreiundzwanzig…vierundzwanzig…fünfundzwanzig…und glaube schließlich, dass es mich wirklich nicht mehr erkennt.

Doch nach einer Unendlichkeit hebt er seine Arme. Er lacht nicht, ist ganz ruhig. Ich nehme ihn hoch und er umarmt mich. Dann legt er sein schlafwarmes Köpfchen auf meiner Brust ab und lässt es dort liegen für dreißig zeitlose Sekunden. Schließlich schaut er auf, mustert mein Gesicht. Nach fünf Sekunden legt er seinen Kopf erneut ab für eine gefühlte Ewigkeit. Dann schaut er erneut zu mir auf – und sein Gesicht erstrahlt im breitesten aller Lächeln. Und er klatscht mit seinen Händen auf meine Wangen, tritt mir in seiner Aufregung in den Bauch, und beißt mir sanft in die Nase. Nach etwas sieben Sekunden bedeutet er mir, ihn abzusetzen und geht spielen.

Und ich habe ein wenig geweint.

Einhundert Prozent Zorn

Mika_EisSohnemann wütet! Hat ein paar Kullertränen in den Augen und ruft, gerade so laut, dass es auch meine Frau im Nebenzimmer verstehen kann: „Ich hab dich nicht mehr lieb. Und ich bin auch nicht mehr dein Freund!“ Nun, da Sohnemann über drei ist, sagt er diesen Satz manchmal mit einem schelmischen Grinsen. Er spielt dann mit mir, übt sich im Schauspiel.

Doch jetzt ist keiner von diesen Momenten. In diesem Augenblick meint er es bitter ernst. Wenn auch nur für wenige Minuten, bis der Rauch verflogen ist. Ich habe eben mit Nachdruck bekannt gegeben, dass es heute kein Eis mehr zum Nachtisch gibt, weil er das Essen, was meine Frau gekocht hatte, kaum angerührt hat. Wir haben das vorher so angekündigt – und ziehen das dann auch durch. Leider hat unsere vorausgegangene Warnung ihn recht wenig beeindruckt. Jetzt kreischt Sohnemann die ganze Bude zusammen, schmeißt sich auf den Boden, schimpft wie ein Rohrspatz.

Wenn es normal läuft im Leben, wird man ab und an mit der vollen Bandbreite und Intensität menschlicher Emotionen konfrontiert, im Geben wie im Nehmen. Ich wünsche zumindest jedem Menschen, dass er einmal hundert Prozent Liebe erleben darf, in beiden Richtungen. Und auch hundert Prozent Traurigkeit erscheint mit durchaus empfehlenswert, bedeutet es doch, dass man zuvor ebenso stark geliebt hat.

Vater zu sein, hat jedoch eine neue Erfahrung in mein Leben gebracht. Kleinkinder haben noch nicht die Fähigkeit, ihre Gefühle zu regulieren oder zu kanalisieren. Von ihnen bekommt man immer hundert Prozent Emotion. Liebe. Lachen. Leiden. Aber eben auch die volle Dröhnung Zorn und Wut. Hier muss ich gestehen: Das kannte ich so nicht – und musste auch erst lernen, damit umzugehen.

Im normalen Leben passiert das einfach so gut wie nie. Wut ist in der westlichen Welt zu sehr geächtet, als dass man ihr bei Erwachsenen in der freien Wildbahn begegnen könnte. Wer wütet, außer sich ist, hat die Kontrolle verloren, sich von den Gefühlen übermannen lassen. Das gilt tendenziell als unsexy. Sohnemann wiederum ist das ziemlich schnurz. Er wütet, was die Wut hergibt, lässt sich weder durch Worte, noch durch Taten besänftigen. Was tun, sprach Zeus?

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich weiß es auch noch nicht. Manchmal frage ich Mika, warum er so wütend ist. Zuweilen unterbricht er dann seine Tirade und sagt – vermutlich vollkommen der Wahrheit entsprechend: „Ich weiß auch nicht“. Gelegentlich ist es dann gut, häufig genug wird aber auch weiter gewütet. Er will dann meist auch niemanden in seiner Nähe haben. Ich versuche, das bestmöglich zu respektieren. Das ist zuhause natürlich leichter, als wenn man in der Öffentlichkeit unterwegs ist. Am Ende des Tages kann man eigentlich nur warten, bis der Sturm sich gelegt hat.

An dieser Stelle kann man in der freien Wildbahn denn auch ganz klar die (jungen) Eltern von den Menschen ohne eigenen Nachwuchs unterscheiden. Letztere gucken des Öfteren genervt, scheinen zu sagen: „Nun krieg doch endlich mal dein Kind in den Griff!“ Die Eltern lächeln meist nur milde und ein wenig konspirativ. „Das hatten wir heute auch schon dreimal“, steht dann in ihren Blicken geschrieben…

Heute ist Mamatag

Ina_Mika_MotorradSohnemann wacht morgens zwischen uns auf und kuschelt erstmal ausgiebig mit Mama. Als er zusammen mit ihr aufsteht, ums ins Bad zu gehen, ohne mich eines Blickes zu würdigen, necke ich ihn freundlich: „Sagst du mir guten Morgen?“ Er geht weiter und ruft von nebenan: „Is egal.“

Ich schmunzle. Ein wenig. Heute ist ein Mamatag. Das gibt es etwa einmal in der Woche. Auch, als ich abends von der Arbeit nachhause komme, werde ich kaum eines Blickes gewürdigt. Mit Müh und Not kann meine Frau Mika überreden, den Blick von seinem Spielzeug abzuwenden und mich zu begrüßen. Eine Umarmung, oder gar ein Willkommenskuss? Ist heute einfach nicht drin.

Ich habe mich daran gewöhnt, dass es diese Tage gibt. da beißt die Maus keinen Faden ab. Es wäre übertrieben zu sagen, dass ich an solchen Tagen nicht existiere. Aber ich bin dann einfach so überhaupt nicht wichtig. Kuscheln? Geht nur mit Mama, trösten ebenso. Desgleichen darf nur sie die letzten Nudeln von seinem Teller essen. Und wehe, es kommt der Vorschlag, ich könne ihn ja als Ausgleich ins Bett bringen. Dann ist Holland in Not – und unser Mieter oben merkt einmal mehr, wie dünn die Decke eigentlich ist.

Ich denke, solche Tage muss man als Papa einfach rausrechnen. Ich habe von befreundeten Vätern gehört, dass das „einfach so ist“. Zugegeben, es nicht immer leicht, diesen Umstand zu akzeptieren. Natürlich bin ich lieber der der Super-Papa, oder wenigstens ein halbwegs akzeptabler Spielkamerad. Ich möchte am liebsten immer eine aktive Rolle in seinem Leben spielen, zumal ich durch meine beruflichen Verpflichtungen sowieso deutlicher weniger Zeit mit ihm verbringen kann als meine Frau.

Ich habe über die Zeit gelernt, sein Verhalten an solchen Tagen nicht als Ablehnung zu definieren. An manchen Tagen ist ja auch das absolute Lieblingsspielzeug total out. Der kleine Wurm hat seine Bedürfnisse und er wird schon wissen, was ihm gut tut. Das muss ich einfach akzeptieren. Aber gefallen muss es mir nicht.

Nachtrag:

Diesen Text schrieb ich auf, als Sohnemann knapp drei Jahre alt war. Vor gut drei Wochen haben wir unser zweites Kind bekommen, eine Tochter. Ich bin schon gespannt wie ein Flitzebogen, ob wir hier vielleicht die gegenteilige Erfahrung machen werden. Befreundete Väter von Töchtern jedenfalls haben mir versichert, dass ich mich für die Zukunft wohl auf vollumfängliche Papatage freuen kann. Wobei das noch ein wenig dauert. Gegen Mamas Milch ist einfach kein Papakraut gewachsen…

Von Freuden und Tränen

Freuden_TraenenIch habe ein bisschen nah am Wasser gebaut für einen echten deutschen Mann, heule oft und gehe dafür auch nicht in den Keller. Anlässe gibt es ja genug, meistens Filme oder Musik. Gerade habe ich „Honig im Kopf“ gesehen, da musste ich weinen am Ende, als der von Dieter Hallervorden gespielte Opa Amandus an Alzheimer stirbt. Meistes kommen mir jedoch in den schönen Momenten die Tränen, zum Beispiel beim Kanon in D-Dur von Johann Pachelbel – aber höchstens jedes dritte Mal.

Seit ich Vater bin, weine ich noch mehr. Es gibt so viele Momente, die ans Herz gehen, sehr unmittelbar und stärker als vieles, was ich zuvor kannte. Das erste Mal erwischte es mich in einem völlig unpassenden Moment auf der Arbeit. Ich saß – gottseidank allein – in meinem Büro, als meine Frau mir via WhatsApp ein Ultraschallbild schickte, so etwa in der 13. Woche. Auf früheren Bildern ist ehrlich gesagt nicht so viel zu erkennen. Ich habe als Junge ab und an in einem nahe gelegenen Weiher Kaulquappen gefangen. Das geht exakt in die gleiche Richtung. Nach ein paar Wochen hat es dann was von einem Gummibärchen, nachdem es ein paar Tage in Wasser eingelegt war. Doch nun war es klar erkennbar: mein Kind.

Es sah aus, wie das, was Fox Mulder in den X-Akten in etwa jeder siebten Folge bei ganz viel Cryo-Nebel und Gegenlicht für etwa zwei Sekunden durch einen Türspalt erblicken konnte: Ein süßes kleines Alien-Baby. In dem Moment überkam es mich. Ich weinte und weinte und weinte. Betete, dass nicht ausgerechnet jetzt jemand die Tür öffnen würde, um meinen Nimbus als smarte Nachwuchsführungskraft für immer zu zerstören. Irgendwann versiegte der Strom und ich antworte meiner Frau, so wie man es tut, wenn man gerade Matsche im Hirn hat. Vermutlich war es das Daumen-Hoch-Icon. Und ein Herz.

Ein anderes Mal, etwa um dieselbe Zeit erwischte es mich spät abends, als meine Frau und ich zu Bett gingen. Ein paar Tage zuvor hatte ich aus einem Impuls heraus ein Stofftier erstanden, so ein Schnüffeltier, bei dem der Kopf halbwegs massiv ist, während der Körper praktisch nur aus dünnem Stoff besteht. Es war ein Bärchen und wir hatten ihn Gomez Pommes getauft, weil Mario Gómez in den Monaten zuvor bei der Fußball-Europameisterschaft 2012 so viele schöne Tore gemacht hatte. Wo die Pommes herkamen, weiß ich heute nicht mehr, aber ich erinnere mich, dass meine Frau in der Schwangerschaft phasenweise süchtig nach Kohlenhydraten war. So muss es gewesen sein.

Auf jeden Fall legte sie Gomez an jenem Abend spontan zwischen uns auf das Kopfkissen. Und auf einmal schossen mir wieder Sturzbäche an Tränen aus den Augen. In dem Moment hatte ich wohl zum ersten Mal verinnerlicht, dass einige Monate später ein echtes Würmchen zwischen uns liegen würde. Ich erinnere mich, dass meine Frau mich – auf sehr liebevolle Weise – ein wenig ausgelacht hat. Dann haben wir gekuschelt.

Freunde fürs Leben

Mika_schlafendEs gibt diese Momente, da bringen Kinder dein Herz zum Zerspringen mit der Wucht ihrer ungefilterten Gefühle, ihrer Ehrlichkeit, ihrer grenzenlosen Liebe.

Eines Abends im Herbst 2015 lag ich wie so oft neben Sohnemann im Bett, nachdem ich ihm bereits eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hatte. Das Licht war gelöscht, er umklammerte meinen Daumen mit einer Hand und ich beobachtete selig, wie er immer tiefer und gleichmäßiger atmete.

Ich dachte, er sei bereits eingeschlafen und wollte mich gerade vorsichtig aus dem Zimmer schleichen. Auf einmal drehte sich Mika zu mir, nahm meinen Kopf in seine kleinen Hände, zog mich ganz nah an sein Gesicht und flüsterte schläfrig:

„Ich bin dein Freund.“

Bäm!

Once upon a Time: Auf Oxytocin-Entzug in New York

Mika_Nico_GeburtstagDarauf war ich nicht vorbereitet. Wirklich nicht.

Meine Frau und ich hatten eine Menge Bücher gelesen während der Schwangerschaft, außerdem zig Newsletter abonniert. Es gibt da ein paar ganz interessante Geschichten, die einem immer wochengenau sagen, was gerade im Bauch passiert (oder nach der Geburt: in Babys Gehirn, oder Darm, oder…oder…oder…). Von daher fühlte ich mich eigentlich immer gut vorbereitet auf alles, was so kam.

Was mir aber keiner gesagt hat – und ich weiß bis heute nicht, ob das bei allen frischen Papas so ist oder nicht: Es kann verdammt wehtun, von seinem Kind getrennt zu sein (und ich meine: verdammt-verdammt). Ich empfand in den ersten eineinhalb Jahren häufig eine Art physischen Schmerz, wenn ich Sohnemann zu lange nicht sehen konnte. So ähnlich, wie wenn man ganz frisch verliebt ist und nicht beim Partner sein kann. Von daher gehe ich davon aus, dass der Vorgang eine hormonelle Grundlage hat.

Am heftigsten erwischte es mich, als Mika knapp ein Jahr alt war. Ich war beruflich für einige Tage in New York. Neben der Arbeit hatten wir genug Zeit für ein attraktives Freizeitprogramm. Wir machten eine Rundfahrt um die Freiheitsstatue, gingen lecker Pizza essen, sahen uns ein Musical auf dem Broadway an und ließen den letzten Abend in der Rooftop-Bar des Empire Hotels ausklingen. High Life sozusagen.

Und dann erwischte es mich.

Ich war in New York und sollte eigentlich „The Time of my Life“ haben. Stattdessen testete ich die Saugfähigkeit meiner King-Size-Matratze.

Ich verabschiedete mich frühzeitig von meinen Begleitern, sagte, dass es mir nicht so gut ginge und verschwand auf mein Hotelzimmer. Dort legte mich aufs Bett und heulte. Etwa 20 Minuten lang, scheinbar ohne Grund. Rotz und Wasser, ganze Sturzbäche. Ich war in New York und sollte eigentlich „The Time of my Life“ haben. Stattdessen testete ich die Saugfähigkeit meiner King-Size-Matratze.

Vielleicht hatte das Musical etwas angestoßen. Wir hatten Once gesehen – eine Geschichte, in der zwei Liebende nicht zueinander finden. Kann ich im Nachhinein nicht mehr sagen. Auf jeden Fall war es heftig.

Seitdem achtete ich darauf, nach Möglichkeit nicht länger als 48 Stunden am Stück weg zu sein, das ist irgendwie die magische Grenze. Somit ist es nicht mehr vorgekommen, vielleicht auch, weil der Trennungsschmerz nicht mehr so ausgeprägt ist, seit Mika etwas älter ist. Aber, in Ermangelung eines besseren Begriffes: Das war schon krass. Liebe Hormone…

Wenn man sich von innen und auswendig kennt

Nico_Mika_GeburtBei einem Kaiserschnitt sitzt man(n) im Operationssaal hinter einem großen grünen Tuch. Der Kopf der Frau guckt raus, als weitere bleibt dem Blick verborgen. Auf der anderen Seite wuselt eine gute Handvoll Menschen vergleichsweise hektisch herum, je nach Krankenkasse Chefärzte, Oberärzte, Ärzte, Assistenzärzte, angehende Ärzte und natürlich die Hebamme sowie einige OP-Schwestern. So war das auch bei uns.

Wenn das Baby dann aus dem Bauch geholt wird, darf man als Mann offenbar aufstehen. Hier kommen nun die Faktoren Timing und Körpergröße ins Spiel. Ist man etwas zu groß (so dass man über die grüne Absperrung schauen kann) und etwas zu früh dran (so dass die Bauchdecke noch geöffnet ist), hat man das unerwartete Vergnügen, seine Frau von innen zu sehen – ein nicht ganz alltäglicher Anblick, sofern man nicht gerade Chirurg ist.

Da man in so einem Moment voller Adrenalin ist, kann ich für die Echtheit meiner Erinnerungen nicht garantieren, aber ich habe mal eine Fernsehdoku gesehen, in welcher gezeigt wurde, wie Gyrosspieße hergestellt werden. In meinem Gehirn sind sich beide Eindrücke ziemlich deckungsgleich abgespeichert.

Ziemlich simultan zu seinem ersten Frischluftatemzug produzierte mein Sohn, gemäß seiner extrovertierten Natur, auch gleich den ersten Frischluftstuhlgang. Derart drückte er sein später gemessenes Geburtsgewicht unter die Vier-Kilo-Marke. Das Geschoss wurde dankenswerterweise noch im Flug von einem der fleißigen Helferlein abgefangen, bevor es dort einschlagen konnte, wo er die letzten neun Monate gewohnt hatte.

Im nächsten Schritt muss die Frau ja wieder zusammengeflickt werden, was für den Vater den Vorteil bietet, die ersten Lebensminuten des Kindes ganz für sich zu haben. Ich ging also mit unserer Hebamme und dem bereits abgenabelten Sohnemann in den Kreißsaal nebenan. Wir säuberten und wogen ihn gemeinsam. Anschließend durfte ich für ein gefaktes Foto nochmal jenen Rest Nabelschnur durchtrennen, welches das OP-Team geistesgegenwärtig am Körper belassen hatte. Und dann lag er da – so wunderschön.

Wat nu? In einer solchen Ausnahmesituation ist es super-hilfreich, wenn man jemanden dabei hat, der sich auskennt. Unsere Hebamme war eine – in jeder Himmelsrichtung – große Frau. Außerdem strahlte sich eine gewisse Dominanz aus, was angesichts der Lage schwer hilfreich war. Die folgenden Sekunden sind in meinem Gedächtnis verewigt, wie jene Szene aus dem ersten Teil von Herr der Ringe, in der Bilbo Beutlin den Ring nicht an Gandalf rausrücken will. Die Hebamme ist also auf einmal vier Meter hoch, füllt den ganzen Raum aus und ruft unter Begleitung von Donnergrollen:

„DUUUUUUUUUU!“
„Ja?!
„ZIEH DEIN T-SHIRT AUS!“
Ich ziehe mein T-Shirt aus.
„LEG DICH IN DEN SESSEL DA!“
Ich lege mich in einen abgeschrägten Stillsessel.

Dann nahm die Hebamme meinen Sohn, legt ihn mir vorsichtig auf die Brust, anschließend eine warme Decke über uns beide und sagte: „Einfach liegenbleiben. Nichts tun, nur atmen…“ Schließlich ging sie wieder in den OP, um sich meiner Frau zu widmen.

Ich weiß nicht, ob wir dann fünf Minuten, fünf Stunden, oder fünf Tage so dort lagen, aber ich weiß jetzt, wie sich Unvergänglichkeit anfühlt.