Gestatten: Gollum

Seit einigen Wochen hat Sohnemann eine anstrengende Phase. Mehrere Male pro Tag geht er in den sogenannten Gollum-Modus. Er befindet sich dann in jenem Stadium des Hin- und Hergerissenseins, in dem im „Herrn der Ringe“ noch nicht ganz klar ist, ob der gute oder böse Gollum gewinnt – was schließlich in Verbal-Attacken und Kämpfen gegen sich selbst gipfelt. Dies kommt meist vor, wenn er sowieso schon müde ist, das muss man rausrechnen – aber es bringt einen trotzdem an die Grenzen.

Es kann zum Beispiel sein, dass man abends noch kurz in die Drogerie reinspringt, um schnell eine Tube Haargel zu kaufen. Nachdem sich Sohnemann die ganze Zeit für alles andere außer für mich interessiert hat, kommt er plötzlich – freilich nachdem ich gerade bezahlt habe, unter großem Geschrei und mit einem von Höllenqualen gezeichneten Gesicht angelaufen und tut schluchzend kund und zu wissen, dass er doch eigentlich bezahlen wollte (wir gewöhnen ihn von Anfang an den Umgang mit Geld). An manchen Tagen vollziehe ich dann mit der Kassierin noch mal einen gespielten Bezahlvorgang,

Doch manchmal geht es einfach nicht, weil die Schlange zu lang ist. Dann bemühe ich mich, Sohnemann mit der säuselndsten aller Stimmen zu erklären, dass er nun nicht mehr zahlen kann. Dann tritt er in den eigentlichen Gollum-Modus ein.

Er schmeißt sich auf den Boden, mit dem Gesicht nach unten und ruft quer durch den ganzen Laden: „Papa, geh weg!“. Wenn man dann tut, wie einem befohlen ward, wird der Kopf leicht angehoben, ein Arm noch vorne gestreckt (das muss er bei meiner Frau abgeguckt haben, während sie vorm Fernseher Pilates macht), und schreit: „Papa, du sollst mich hochheben!“ Komme ich wieder näher und versuche, ihn vorsichtig aufzuheben, dann schalt es: „Aua, du tust mir weh. Jetzt bin ich nicht mehr dein Freund.“

Sobald diese Tanzfigur einige Male vollzogen ist, steht er meist von alleine auf. Das ist aber noch lange nicht der Punkt, an dem wir bereit wären zu gehen. Wenn ich ihn auffordere, mit mir den Laden zu verlassen, kommen wir in eine weitere Phase, die mich immer an Captain Kirk aus Star Trek erinnert. In jeder dritten Folge musste sich der kühne Weltraum-Held den Kraftfeld-Strahlen eines hundsgemeinen Planetenherrschers mit Pappschädel erwehren. Er stand dann da: schwankend, die Beine leicht versetzt, mit vor Anstrengung verzerrten Gesicht, eine Hand halb ausgestreckt, die andere schützend über die Augen gelegt, und kam weder sonderlich weit vor, noch zurück. So sieht das bei Sohnemann auch aus. Das ist im Prinzip OK, aber dann doch wieder nervig, wenn man das Raumschiff im eingeschränkten Halteverbot geparkt hat.

Ich habe keine Ahnung, ob das normal oder unnormal ist – aber ich hoffe, dass es bald wieder aufhört. Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als den Hosenscheißer zu packen, auf den Arm zu nehmen, und den Laden unter lautstarkem Protest zu verlassen. Die verständnislosen Blicke aller Nicht-Eltern* in der Kassenschlange muss man einfach aushalten.

Mit ein bisschen Glück sind aber auch ein paar junges Mamas oder Papas dabei. Dann kriegt man wenigstens noch ein mitwissendes Lächeln geschenkt…

* Neulich auf Facebook las ich folgendes – das passt:

Früher, als ich kinderlos war, habe ich immer gedacht, nebenan wird ein Kind ermordet. Heute weiß ich: es bekommt den Schlafanzug angezogen.

Je müder, desto kreisch…

fullsizerenderKinder funktionieren eigentlich von allein. Außer wenn sie müde sind. Im Grunde gibt es bei Dreijährigen nur wenige grundlegende Gemütskonfigurationen. Die wichtigsten sind:

  • Ich will spielen (rumtoben, puzzeln, kneten etc.).
  • Ich will essen.
  • Ich muss Pipi.
  • Ich muss Pipi und AA.

Das Gute ist: im Gegensatz zu den früheren Jahren muss man nicht mehr raten, wat Sache ist. Sie sagen es einfach frei heraus. Wenn Sohnemann also Pipi und AA muss, sagt er: „Papa, komm! Ich muss Pipi und AA.“ Das ist eine saubere Sache. Keinerlei Missverständnisse. Wenn das Bedürfnis befriedigt ist, kommt automatisch ein Neues.

Es gibt allerdings noch einen weiteren äußerst elementaren Aggregatszustand. Er lautet: Ich bin müde. Allerdings scheint es unter allen Dreijährigen der Welt eine Art geheime Absprache zu geben: Während es völlig OK ist, wenn man sagt, dass man Pipi und AA muss, scheint es irgendwie verboten zu sein, zuzugeben, dass man müde sei. Es scheint sogar nur unter großen Qualen möglich, das Wort überhaupt auszusprechen.

Von daher ist das schlafbringende Sandmännchen so etwas wie der Voldemort im Reich der Dreijährigen.

Wenn man also wissen will, ob das Kind müde ist, muss man sich auf andere Kennzeichen verlassen als jene, die über den verbalen Kanal kommen. Man kann natürlich auf die Augen achten, die irgendwann so glasig werden, dass man das Haus erst mal nach Drogen absuchen möchte. Es gibt allerdings noch ein deutlich valideres Kriterium, und das hat mit Dezibel zu tun – es liegt so im Bereich des Möglichen, dass es sich hierbei um ein Naturgesetzt handelt. Die mathematische Gleichung hierfür lautet:

Je müder, desto kreisch.

Wenn Kinder (richtig) müde werden, funktioniert einfach alles nicht mehr so richtig. Sie stoßen sich häufiger die Zehen beim Toben, weil sich aus dem nichts völlig neue Möbelstücke im Raum materialisieren. Sie wissen nicht mehr, was sie wollen. Sie haben einen dann nicht mehr lieb, und sind überhaupt mit der Gesamtsituation unzufrieden. Dies wiederum tun sie natürlich kund. Es wird gebrüllt und geschrien, gejault und gequietscht, gewütet und gezetert.

Der größte Fehler, den man als Erziehungsberechtigter nun machen kann, ist der Versuch, in irgendeiner Form rational zu argumentieren. Es gibt ab jetzt auf jedes Gesprächsangebot sowieso nur noch eine einzige Antwort. Sie lautet: nein. Also so wie in: Na-hein! „Mika, ich denke, es wird Zeit für dich, ins Bett zu gehen.“ „Na-hein!“ „OK, noch fünf Minuten. Aber pass wenigstens auf, dass du dir nicht nochmal den Kopf stößt.“ „Na-hein!“ „Möchtest Du ein Eis?“ „Na-heeeeeeeeiiiin!!!“

An diesem Punkt gibt es eigentlich nur noch eines: Kind schnappen, auf den Arm nehmen, über den Kopf streicheln, den ohrenbetäubenden Lärme aushalten – und warten, bis dieser vergeht. Meist versiegt er nach etwa 20 – 30 Sekunden. Wenn die Augen dann schon halb zugehen wollen, heißt es: Schnell sein! Zähne putzen, den Schlafanzug an und ab ins Bett – bevor der Nachwuchs ganz eingeschlafen ist. Ein eventuelles Aufwachen zieht nämlich in der Regel eine weitere Phon-Attacke nach sich.

Und dann: Am besten danebenlegen. Stille genießen. So lange es geht…

Einhundert Prozent Zorn

Mika_EisSohnemann wütet! Hat ein paar Kullertränen in den Augen und ruft, gerade so laut, dass es auch meine Frau im Nebenzimmer verstehen kann: „Ich hab dich nicht mehr lieb. Und ich bin auch nicht mehr dein Freund!“ Nun, da Sohnemann über drei ist, sagt er diesen Satz manchmal mit einem schelmischen Grinsen. Er spielt dann mit mir, übt sich im Schauspiel.

Doch jetzt ist keiner von diesen Momenten. In diesem Augenblick meint er es bitter ernst. Wenn auch nur für wenige Minuten, bis der Rauch verflogen ist. Ich habe eben mit Nachdruck bekannt gegeben, dass es heute kein Eis mehr zum Nachtisch gibt, weil er das Essen, was meine Frau gekocht hatte, kaum angerührt hat. Wir haben das vorher so angekündigt – und ziehen das dann auch durch. Leider hat unsere vorausgegangene Warnung ihn recht wenig beeindruckt. Jetzt kreischt Sohnemann die ganze Bude zusammen, schmeißt sich auf den Boden, schimpft wie ein Rohrspatz.

Wenn es normal läuft im Leben, wird man ab und an mit der vollen Bandbreite und Intensität menschlicher Emotionen konfrontiert, im Geben wie im Nehmen. Ich wünsche zumindest jedem Menschen, dass er einmal hundert Prozent Liebe erleben darf, in beiden Richtungen. Und auch hundert Prozent Traurigkeit erscheint mit durchaus empfehlenswert, bedeutet es doch, dass man zuvor ebenso stark geliebt hat.

Vater zu sein, hat jedoch eine neue Erfahrung in mein Leben gebracht. Kleinkinder haben noch nicht die Fähigkeit, ihre Gefühle zu regulieren oder zu kanalisieren. Von ihnen bekommt man immer hundert Prozent Emotion. Liebe. Lachen. Leiden. Aber eben auch die volle Dröhnung Zorn und Wut. Hier muss ich gestehen: Das kannte ich so nicht – und musste auch erst lernen, damit umzugehen.

Im normalen Leben passiert das einfach so gut wie nie. Wut ist in der westlichen Welt zu sehr geächtet, als dass man ihr bei Erwachsenen in der freien Wildbahn begegnen könnte. Wer wütet, außer sich ist, hat die Kontrolle verloren, sich von den Gefühlen übermannen lassen. Das gilt tendenziell als unsexy. Sohnemann wiederum ist das ziemlich schnurz. Er wütet, was die Wut hergibt, lässt sich weder durch Worte, noch durch Taten besänftigen. Was tun, sprach Zeus?

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich weiß es auch noch nicht. Manchmal frage ich Mika, warum er so wütend ist. Zuweilen unterbricht er dann seine Tirade und sagt – vermutlich vollkommen der Wahrheit entsprechend: „Ich weiß auch nicht“. Gelegentlich ist es dann gut, häufig genug wird aber auch weiter gewütet. Er will dann meist auch niemanden in seiner Nähe haben. Ich versuche, das bestmöglich zu respektieren. Das ist zuhause natürlich leichter, als wenn man in der Öffentlichkeit unterwegs ist. Am Ende des Tages kann man eigentlich nur warten, bis der Sturm sich gelegt hat.

An dieser Stelle kann man in der freien Wildbahn denn auch ganz klar die (jungen) Eltern von den Menschen ohne eigenen Nachwuchs unterscheiden. Letztere gucken des Öfteren genervt, scheinen zu sagen: „Nun krieg doch endlich mal dein Kind in den Griff!“ Die Eltern lächeln meist nur milde und ein wenig konspirativ. „Das hatten wir heute auch schon dreimal“, steht dann in ihren Blicken geschrieben…

Unser Sohn ist ein Arschloch!

Mika_FeuerDiesen Satz habe ich gerade zu meiner Frau gesagt. Und die hat verständnisvoll genickt. Um der Wahrheit zur Ehre zu gereichen; ich sagte: „Unser Sohn ist heute ein Arschloch.“ Es ist mir nicht einfach so rausgerutscht. Ich habe es so gemeint. Und denke nicht, dass das sonderlich gemein war.

Es gibt Tage, an denen verhalten sich Dreijährige wie ausgewachsene Psychopathen, das ist einfach so. Vermutlich, weil in der Nacht irgendwelche Synapsen entknotet und noch nicht wieder korrekt verdrahtet wurden. Mal schauen, wie ich Sohnemann dann während der Pubertät titulieren werde.

Wie ich darauf komme, dass mein Sohn heute ein Arschloch ist? Nun, es gibt tatsächlich wissenschaftliche Abhandlungen zu diesem Thema. Der amerikanische Philosoph Aaron James hat diesem diffizilen Sujet gar ein ganzes Buch gewidmet („Arschlöcher – eine Theorie“). In diesem liefert er auch eine ziemlich trennscharfe Beschreibung eines charakterlichen Arschlochs, um jene Gattung Mensch von Übeltätern leichterer und schwererer Natur abzugrenzen:

Ein Mensch gehört zur Gattung Arschloch, wenn, und nur wenn, er sich in Beziehungen zu anderen Menschen systematisch Freiheiten herausnimmt, die einem tief verwurzelten Anspruchsdenken entspringen, das ihn für die Einwände anderer unempfänglich macht. […] Ein Arschloch ist zum Beispiel jemand, der sich regelmäßig vordrängelt. Oder andere ständig unterbricht. Oder ständig die Spur wechselt. Oder andauernd auf die Fehler anderer hinweist. Jemand, der superempfindlich auf jede Kränkung reagiert, für die eigenen Grobheiten anderen gegenüber aber blind ist.

Also wenn Sie mich fragen, spricht der gute Mann da über meinen Sohn. Natürlich benimmt er sich nicht an allen Tagen so, aber es kommt eben regelmäßig vor.

Ich erinnere mich an meine Jugendzeit, konkret: an ein Interview in der Bravo mit Sebastian Bach, dem Sänger einer kurzzeitig sehr angesagt Hair-Metal Band namens Skid Row. Obwohl er täglich geschätzte acht Stunden mit Haare föhnen beschäftigt war, wirkte er gleichzeitig sehr darauf erpicht, als böser Bube wahrgenommen zu werden – ein bisschen so wie Sido bis vor ein paar Jahren, nur eben mit viel mehr Haaren.

In dem Interview sagte er sinngemäß (ich kriege es nicht mehr ganz auf die Kette, aber die wichtigen Fragmente sind tatsächlich Wortlaut): „Ich bin ein fieser Typ. Ich bin der, der bei dir zuhause reinkommt, auf den Teppich kotzt und deinen Hund anpinkelt.“ Ich glaube kaum, dass Sohnemann dieses Interview kennt. Trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, er steht ab und morgens auf und beschließt: „Heute bin ich Sebastian Bach!“

An solchen Tagen leidet er an Taubheit im Endstadium (allerdings nur, wenn um Anweisungen der Eltern geht), lässt den sprichwörtlichen Elefanten im Porzellanladen im Vergleich wie einen Schweizer Uhrmacher aussehen und schreit wegen jeder noch so kleinen Kleinigkeit rum, als hätte man gerade vor seinen Augen sein Lieblingsstofftier geschreddert und anschließend verbrannt.

An dieser Stelle muss ich dann auch mal mit einem Vorurteil aufräumen. Es heißt manchmal, kleine Kindern könnten noch nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Am Arsch! Das halte für kolossal falsch. Zumindest bezogen auf ihre kleine Welt erscheint es mir so, als wüssten sie ganz genau, „wat Sache“ ist. Ich sehe das an diesem etwas unterdrückten, aber doch klar erkennbaren diabolischen Grinsen, welches Mikas Gesicht an solchen Tagen ziert, wenn er auch die siebte Aufforderung, nun endlich seinen Schlafanzug anzuziehen, genüsslich missachtet. Jaja, ich weiß: Grenzen testen und so. Muss sein, gehört dazu. Versteh ich. Aber, alter Vatter, manchmal könnte ich ihn auf den Mond schießen.

Ich habe mir über die Zeit diese „bis drei zählen“-Nummer angewöhnt. Komme mir ein bisschen albern dabei vor, aber es wirkt als Ultima Ratio. Irgendwie hat Sohnemann gelernt: Wenn Papa das macht, ist der Spaß vorbei.

Ich fürchte mich allerdings vor dem Tag, an dem er mich fragen wird:

„Papa, was genau passiert eigentlich bei drei?“

Nachtrag

Nachdem das Stück bei Eltern.de auf Facebook geteilt wurde, haben sich manche Leser über meine Wortwahl echauffiert. Ich kann das einerseits nachvollziehen, denke aber auch, dass das in bestimmten Momenten einfach dem entspricht, was viele Menschen im Kopf haben. Wir sind alle keine Heiligen und ein bisschen fluchen zur rechten Zeit ist vermutlich sogar ganz hilfreich für die eigene Psychohyhiene. Dampf ablassen und dann es ist es auch wieder gut.

Darüber hinaus: Ich würde mein Kind niemals direkt so nennen – und ich denke auch nichtnichten, dass mein Kind ein A. ist. Doch ich fand die wissenschaftliche Definition, die ich im Text zitiere, einfach sehr treffend. Anders gesagt: Würde ein Erwachsener sich so verhalten, wie es die meisten Dreijährigen an vielen Tagen tun, dann hätte er/sie sich den Titel redlich verdient. Und trotzdem lieben wir sie über alles. Das ist das Wunder…