Einhundert Prozent Zorn

Mika_EisSohnemann wütet! Hat ein paar Kullertränen in den Augen und ruft, gerade so laut, dass es auch meine Frau im Nebenzimmer verstehen kann: „Ich hab dich nicht mehr lieb. Und ich bin auch nicht mehr dein Freund!“ Nun, da Sohnemann über drei ist, sagt er diesen Satz manchmal mit einem schelmischen Grinsen. Er spielt dann mit mir, übt sich im Schauspiel.

Doch jetzt ist keiner von diesen Momenten. In diesem Augenblick meint er es bitter ernst. Wenn auch nur für wenige Minuten, bis der Rauch verflogen ist. Ich habe eben mit Nachdruck bekannt gegeben, dass es heute kein Eis mehr zum Nachtisch gibt, weil er das Essen, was meine Frau gekocht hatte, kaum angerührt hat. Wir haben das vorher so angekündigt – und ziehen das dann auch durch. Leider hat unsere vorausgegangene Warnung ihn recht wenig beeindruckt. Jetzt kreischt Sohnemann die ganze Bude zusammen, schmeißt sich auf den Boden, schimpft wie ein Rohrspatz.

Wenn es normal läuft im Leben, wird man ab und an mit der vollen Bandbreite und Intensität menschlicher Emotionen konfrontiert, im Geben wie im Nehmen. Ich wünsche zumindest jedem Menschen, dass er einmal hundert Prozent Liebe erleben darf, in beiden Richtungen. Und auch hundert Prozent Traurigkeit erscheint mit durchaus empfehlenswert, bedeutet es doch, dass man zuvor ebenso stark geliebt hat.

Vater zu sein, hat jedoch eine neue Erfahrung in mein Leben gebracht. Kleinkinder haben noch nicht die Fähigkeit, ihre Gefühle zu regulieren oder zu kanalisieren. Von ihnen bekommt man immer hundert Prozent Emotion. Liebe. Lachen. Leiden. Aber eben auch die volle Dröhnung Zorn und Wut. Hier muss ich gestehen: Das kannte ich so nicht – und musste auch erst lernen, damit umzugehen.

Im normalen Leben passiert das einfach so gut wie nie. Wut ist in der westlichen Welt zu sehr geächtet, als dass man ihr bei Erwachsenen in der freien Wildbahn begegnen könnte. Wer wütet, außer sich ist, hat die Kontrolle verloren, sich von den Gefühlen übermannen lassen. Das gilt tendenziell als unsexy. Sohnemann wiederum ist das ziemlich schnurz. Er wütet, was die Wut hergibt, lässt sich weder durch Worte, noch durch Taten besänftigen. Was tun, sprach Zeus?

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich weiß es auch noch nicht. Manchmal frage ich Mika, warum er so wütend ist. Zuweilen unterbricht er dann seine Tirade und sagt – vermutlich vollkommen der Wahrheit entsprechend: „Ich weiß auch nicht“. Gelegentlich ist es dann gut, häufig genug wird aber auch weiter gewütet. Er will dann meist auch niemanden in seiner Nähe haben. Ich versuche, das bestmöglich zu respektieren. Das ist zuhause natürlich leichter, als wenn man in der Öffentlichkeit unterwegs ist. Am Ende des Tages kann man eigentlich nur warten, bis der Sturm sich gelegt hat.

An dieser Stelle kann man in der freien Wildbahn denn auch ganz klar die (jungen) Eltern von den Menschen ohne eigenen Nachwuchs unterscheiden. Letztere gucken des Öfteren genervt, scheinen zu sagen: „Nun krieg doch endlich mal dein Kind in den Griff!“ Die Eltern lächeln meist nur milde und ein wenig konspirativ. „Das hatten wir heute auch schon dreimal“, steht dann in ihren Blicken geschrieben…

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s